Wissenschaft persönlich: Juan María Solare

Bild am Klavier von Juan Maria Solare
Juan María Solare ist Komponist und Pianist und unterrichtet an der Universität Bremen Tangomusik, an der Hochschule für Künste Bremen Komposition und Arrangement für die Schulpraxis und an der Musikschule Bremen Klavier.

© WFB / Ginter

Bremens Wissenschaft ist exzellent! Und daran haben natürlich die vielen schlauen Köpfe, die sich in den Laboren und den Hörsälen tummeln, erheblichen Anteil. Wer steckt hinter dem Erfolg der Bremer Wissenschaft? In unserer Porträt-Reihe Wissenschaft persönlich stellen sich Wissenschaftler:innen und Wissenschaftskommunikator:innen regelmäßig unseren Fragen und verraten, was sie an ihrer Arbeit lieben und warum der Standort Bremen für sie genau der richtige ist.

Im diesjährigen Themenjahr „klangfrisch 2022 – Bremen – Stadt der Musik“ dreht sich in Bremen alles rund um die Musik. Aus diesem Grund porträtieren wir in unserer Reihe „Wissenschaft persönlich“ im April einen Künstler, der beide Bereiche miteinander verbindet. Juan Maria Solare ist leidenschaftlicher Berufsmusiker und gibt seine Begeisterung für die Musik deshalb als Dozent an der Universität Bremen und der Hochschule für Künste Bremen an die Studierenden und an der Musikschule Bremen an die Schüler:innen weiter. Worin Herr Solare die gesellschaftliche Bedeutung in seinem Beruf sieht und was genau ihn an seiner Arbeit begeistert, verrät er uns hier im Interview:

  • Was wären Sie geworden, wenn Sie nicht Wissenschaftler [Künstler bzw. Berufsmusiker] geworden wären?

Eine ähnliche Frage wurde mir einmal in einem vorab aufgezeichneten Radiointerview gestellt. "Wenn du kein Musiker sein könntest, wärst du..." Meine spontane Antwort war: "tot". Diese Frage wurde später gestrichen. Die Redakteure hielten das für eine oberflächliche Boutade und erkannten möglicherweise nicht den Sinn hinter dieser Aussage, nämlich, dass ich austrocknen würde, wenn ich die Musikkunst nicht ausüben könnte. Deshalb antworte ich hier vorsichtshalber auch anders: Zu den möglichen Alternativen gehörten die Architektur und die anorganische Chemie (man beachte, dass die Ars Combinatoria und die Leidenschaft für den Aufbau nichtexistierender Welten in beiden Disziplinen sehr präsent sind, ebenso wie in der Musikkomposition). Eine dritte Alternative wäre die Literatur gewesen. Ich liebe das Schreiben, sowohl von Essays als auch von Fiktion, wie Sie gleich lesen werden.

  • Wann finden Sie Ihren Job klasse? Welche Momente sorgen für Begeisterung?

(a) Wenn ich eine Seele berühren kann, ästhetische Begeisterung auslösen kann, was eine Form von Aha-Erlebnis ist.

(b) Wenn jemand nach einem Konzert auf mich zukommt und beichtet, dass meine Musik ihm den Lebenswillen zurückgegeben hat. Das ist mir zwar schon passiert, geschieht aber nicht so häufig, ich vermute, weil die Menschen sich nicht trauen, diese Erfahrung auszusprechen, oder sie nicht einmal für sich selbst in Worte fassen können.

  • Stellen Sie sich vor, Sie hätten auf dem Freimarkt einen Stand und müssten nun den Besucher:innen erklären, an was Sie gerade arbeiten – wie sähe Ihr Stand aus?

Wie ein Labor mit Reagenzgläsern, Destillierapparaten und Retorten, die scheinbar unzusammenhängend und chaotisch sind, in Wirklichkeit aber ein absolut kohärentes System bilden, wie ein lebender Organismus, in dem jedes Organ eine unverzichtbare und unersetzliche Funktion hat.

  • Welche gesellschaftliche Bedeutung hat Ihre Arbeit und worin besteht der Nutzen?

Bestimmte Dinge haben keine unmittelbare, utilitaristische und unidirektionale "IF-THEN"-Anwendung (Ursache-Wirkung). Sie tragen zur Bildung der gesamten Persönlichkeit bei. Das ist bei der Musik der Fall. Wenn es etwas gibt, das Musiker der Gesellschaft vermitteln können, dann ist es die Kunst des Hörens. Denn das Hören ist die Voraussetzung für den Dialog, der die grundlegende Form der Kommunikation ist.

  • Wann sprechen Sie bei Ihrer Arbeit von Fortschritt? Oder anders gefragt: Womit retten Sie die Welt?

Trost; ich rette die Welt, indem ich durch die Musik Trost spende. Trost wovon? könnten Sie mich fragen. Meines Erachtens gibt es genug Schmerz in der Welt oder auch im eigenen Leben; ihn zu tabuisieren ist nicht gesund, und ihn zu leugnen hilft nicht, seine latente Energie zu kanalisieren.

Es ist also schwierig, den Begriff des Fortschritts in der Kunst zu definieren. Sogar in der Wissenschaft ist nicht immer klar, was Fortschritt ist (man erinnere sich an die berühmte Anekdote von Michael Faraday, als er den Elektromagnetismus vorstellte - er wurde gefragt: "Wozu ist das gut?", er antwortete: "Was ist gut an einem neugeborenen Baby?") Es ist wichtig, das Konzept des "Fortschritts" von dem des "unmittelbaren Ergebnisses" zu trennen, und zwar schon bei der wissenschaftlichen Grundlagenforschung, wo es eine Vielzahl von Experimenten gibt, die nur in einer Sackgasse enden, in einem "so geht das nicht" (wir erinnern uns hier an Edison und seine 9999 Möglichkeiten, eine Glühbirne NICHT zu entwickeln).

Zweitens: "Ein großer Teil der wissenschaftlichen Forschung zielt nicht auf die Lösung eines bestimmten Problems ab, sondern darauf, zu verstehen, wie die Dinge funktionieren" (Esperanza Domingo Gil). Schließlich ist der Fortschritt keine lückenlose, zweidimensionale gerade Linie. Das Fortschrittsmodell muss mindestens dreidimensional sein (indem es die Vertiefung des bereits Bekannten hinzufügt). Außerdem wird es anregend sein, das Modell des "Fortschritts als gerade Linie" durch das Modell des "Fortschritts als Linie fraktaler Natur" zu ersetzen.
Erschwerend kommt hinzu, dass in der Kunst der Begriff des Fortschritts noch unbestimmbarer ist. Technische Hilfsmittel und Instrumente können sich weiterentwickeln, aber die Ästhetik? Nach der Postmoderne hat niemand mehr die Autorität - oder die Glaubwürdigkeit - zu bestimmen, wo "vorwärts" liegt.

  • Verraten Sie uns Ihr liebstes Arbeitsinstrument oder Ihre wichtigste Forschungsmethode?

Das Klavier ist immer noch mein liebstes Arbeitsinstrument. Es ist ein Freund und Beichtvater, so wie ein Pferd der Freund und Beichtvater eines Gauchos oder eines Cowboys ist. Es folgen Musiksoftware zum Erzeugen oder Collagieren/Basteln von Klängen und Audioaufnahmen (z. B. die Digital Audio Workstation namens Reaper) und Software zum Schreiben von Partituren (die ich seit Jahrzehnten täglich benutze).
Was meine Forschungsmethoden angeht, so ist die musikalische Analyse eine der wichtigsten, bei der die zentrale Frage lautet: "Wie haben meine Vorfahren ihre Probleme gelöst?" Natürlich werden meine kompositorischen Probleme nicht identisch sein, aber das ist nicht der Kernpunkt: Bei der Analyse der Musik anderer Leute suche ich nicht nach konkreten Antworten, sondern nach Möglichkeiten und Modellen, kreative "Probleme" anzugehen. Die Musikanalyse ist vergleichbar mit dem, was in der Informatik als Reverse Engineering bekannt ist (Nachkonstruktion von Software). Eine Ironie ist, dass Reverse Engineering in der Regel ethisch verwerflich und manchmal illegal ist, während die Musikanalyse hoch angesehen wird.

  • Wann und warum führte Sie Ihr Weg nach Bremen? Und woher kamen Sie?

Endlich eine einfache Frage! Ich komme aus Buenos Aires, Argentinien. Nachdem ich dort meine drei Diplome (in Klavier, Komposition und Orchesterleitung) erworben hatte, ging ich nach Köln, um ein Aufbaustudium in (instrumentaler und elektronischer) Musikkomposition zu absolvieren. Dann habe ich ein Jahr lang im Künstlerdorf Worpswede als Artist in Residence gelebt. Parallel dazu habe ich Gespräche mit Leuten von der Universität Bremen aufgenommen. Insbesondere war es Andreas Lieberg, der mir vorschlug, die Leitung des Orquesta no Típica zu übernehmen, eines Kammerensembles an der Universität, das Tangomusik spielt. Ich mache das schon seit nicht weniger als zwanzig Jahren. Bremen ist damit eine der wenigen europäischen Städte, in denen Tangomusik auf Universitätsebene studiert werden kann.

  • Was schätzen Sie am Land Bremen als Wissenschaftsstandort? Was hält Sie hier?

Ein wichtiger Aspekt ist meine Familie. Ich habe drei Kinder. Was soll ich tun, weggehen und sie im Stich lassen? Ich bin nicht diese Art von Vater. Außerdem fühle ich mich bei meiner Arbeit in Bremen überhaupt nicht unglücklich und habe deshalb keine starke Motivation, zu gehen. Sicherlich könnte sich etwas verbessern (wie die Arbeitsbedingungen). Vergessen wir nicht einen psychologischen Aspekt: Ich bin bereits von Argentinien nach Köln ausgewandert und dann von Köln nach Bremen. Warum, wozu noch ein Wechsel? Würde ein Umzug meine Lebenssituation wesentlich verbessern? Selbst ein Nomade wird müde.

  • Fehlt Ihnen etwas?

Ja, aber ich glaube nicht, dass das mit Bremens Unzulänglichkeiten zu tun hat, sondern mit meinen eigenen. Ich habe zum Beispiel das Gefühl, dass mir qualitativ hochwertiger Input fehlt, oder das Treffen mit Gleichgesinnten (ohne überfüllten Kalender). Wissen Sie, es ist sehr unwahrscheinlich, eine andere Person zu finden, die ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht hat, und jede Kommunikation setzt gemeinsame Erfahrungen voraus.

  • Die Wege in Bremen und Bremerhaven sind bekanntlich kurz. Wie bewegen Sie sich durch die Stadt?

Bus, Straßenbahn, Zug, manchmal Fahrrad. Aber von meinem Wohnort (Am Dobben) zur Hochschule für Künste (Domsheide) laufe ich meist am "Ententeich", wie meine Kinder ihn nennen, also über die Wallanlage.

  • Wenn Sie die Wissenschaftsszene im Land Bremen mit einem Tier vergleichen sollten, welches würden Sie wählen und warum?

Eine totemistische Frage. Vielleicht das Kamel, das lange Zeit ohne Wasser auskommen kann, ohne auszutrocknen.

  • Was war die größte Herausforderung Ihrer wissenschaftlichen/beruflichen Laufbahn, die Sie zu meistern hatten?

Wenn ich nur einen Punkt erwähnen müsste, dann wären das die Konfliktmomente in zwischenmenschlichen Beziehungen in großen Gruppen. Beim Dirigieren eines Orchesters oder eines Chors ist die Harmonie zwischen den Menschen nicht weniger wichtig als die Harmonie zwischen den Klängen. Und als Dirigent ist es eine meiner Aufgaben, alle möglichen - realen oder latenten - Reibungen zwischen den Mitgliedern dieser Klangkörper zu 'ölen'. Etwas Ähnliches passiert manchmal, aber in viel geringerem Maße, in Studentengruppen.

  • Welche stehen Ihnen noch bevor?

Das werden wir sehen, wenn sie auftauchen. Ich habe keinerlei Interesse daran, im Voraus zu leiden.

  • Haben Sie eine persönliche Erfolgsformel?

Man müsste den Begriff "Erfolg" erst einmal definieren, was nicht so einfach ist, wie es vielleicht scheint. Außerdem habe ich entdeckt: Begriffen wie "Erfolg" zu viel Bedeutung beizumessen, wirkt sich negativ auf meine Kreativität aus. Ich habe zwar einige Vorgehensweisen, einige wiederkehrende Methoden, aber ich kann nicht garantieren, dass sie perfekt sind - oder auf andere Menschen übertragbar. Ich glaube zum Beispiel, dass es besser ist, "gut" zu arbeiten als "hart", d. h. aufmerksam und mit Freude, diszipliniert und leidenschaftlich. Ich glaube vor allem, dass der Mangel an Konzentration das Talent vergiftet. Ergänzend dazu kann Networking - als Arbeitstechnik - helfen, in Momenten von Leerlauf Lösungen zu finden; aber Vorsicht: zu viel Networking kann dazu führen, dass man vergisst, wer man ist.

  • Aus welchem Scheitern haben Sie am meisten gelernt?

Mein schrecklichstes Konzert war am Ende eines intensiven Arbeitstages, nach einer Nacht mit nur ein paar Stunden Schlaf und das auch noch im Bus. Mit weniger Heftigkeit wiederholte ich ähnliche Erfahrungen bei mehr als einer Gelegenheit, oft gezwungen durch die Umstände. Die Moral der Geschichte ist, dass Schlafmangel katastrophale Auswirkungen auf meine Leistungsfähigkeit hat. Das ist natürlich keine göttliche Offenbarung.

  • Wobei oder wodurch wird Ihr Kopf wieder frei?

Der musikalische Beruf legt mich nicht in Ketten, so dass ich mich befreien müsste, aber das, was einer ehrlichen Antwort am nächsten kommt, ist: Online-Schach spielen. Wussten Sie, dass sehr viele Musiker, vom barocken Philidor über den Neoklassiker Sergej Prokofjew bis hin zum Avantgardisten John Cage, Schach gespielt haben? Für viele Musiker ist Schach ein Erkennungszeichen, quasi wie ein Passwort.

  • Die nächsten Nachwuchswissenschaftler:innen ziehen nach Bremen. Was würden Sie ihnen raten, wo man wohnen und abends weggehen soll?

Ich glaube, nachdem sie ein paar Wochen in Bremen gelebt haben, sind sie diejenigen, die mir zeigen werden, wo ich abends ausgehen kann.

  • Mit wem würden Sie diese Wissenschaftler:innen hier in Bremen oder Bremerhaven bekannt machen wollen?

Mit der Person, die sie für ihre persönliche oder berufliche Entwicklung am meisten brauchen, und das wird von Fall zu Fall verschieden sein.

  • Wenn Sie einen Tag lang Ihr Leben mit einer Bremer oder Bremerhavener Persönlichkeit tauschen könnten, wessen Leben würden Sie wählen?

Das des Esels der Bremer Musikanten? Dann könnte ich ein wenig pausieren - und das arme Tier könnte die Beine ausstrecken. Langfristig gesehen würde ich mich jedoch gegen niemanden eintauschen wollen. Es hat mich einige Jahre gekostet, das aufzubauen, was ich bin.

Bild von Juan Maria Solare

© WFB / Ginter

Geburtsjahr

1966

Fachbereich / Forschungsfeld

Musikkomposition

Aktuelle Position / Funktion

Dozent (Uni Bremen, Hochschule für Künste Bremen)

Aktuelle Tätigkeit / aktuelles Forschungsprojekt

Musik für einen Film, für ein Live-Hörspiel und für ein Klavieralbum. Herausgabe eines Notenalbums für Peters Verlag, Leipzig.

Familienstand

dreifacher Vater

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