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Wissenschaft Persönlich: Prof. Dr. Lucio Colombi Ciacchi

Mann grinst in die Kamera, hinter ihm Kabel
Der Professor im Fachbereich Produktionstechnik der Universität Bremen berichtet über seine persönliche Motivationsformel, Begeisterung an seiner Arbeit und den Standort Bremen

© WFB/Jonas Ginter

Bremens Wissenschaft ist exzellent! Und daran haben natürlich die vielen schlauen Köpfe, die sich in den Laboren und den Hörsälen tummeln, erheblichen Anteil. Wer steckt hinter dem Erfolg der Bremer Wissenschaft? In unserer Porträt-Reihe Wissenschaft persönlich stellen sich Wissenschaftler:innen und Wissenschaftskommunikator:innen regelmäßig unseren Fragen und verraten, was sie an ihrer Arbeit lieben und warum der Standort Bremen für sie genau der richtige ist.

Im Februar 2019 stellen wir euch Prof. Dr.-Ing. Lucio Colombi Ciacchi vor. Der Professor im Fachbereich Produktionstechnik an der Universität Bremen ist Inhaber der Conrad-Naber-Stiftungsprofessur "Grenzflächen in der Bio-Nano-Werkstofftechnik" und ist Sprecher des MAPEX Center for Materials and Processes der Universität Bremen. Warum er nie LKW-Fahrer wird, wieso er die Bremer Wissenschaftsszene mit einem Bienenschwarm vergleicht und wie sich die Besucher seines Stands auf dem Freimarkt die Welt ganz nah anschauen könnten, erzählt er im Interview.

  • Was wären Sie geworden, wenn Sie nicht Wissenschaftler geworden wären?
    Hätte ich mich nicht nach dem Abitur für ein Studium des Materialingenieurswesens entschieden, hätte ich Philosophie oder Mathematik studiert und wäre ebenfalls Wissenschaftler geworden, nur in einem anderen Fach. Mein Kindertraumjob als Lastwagenfahrer ist durch die anstehende Autonomie der Fahrzeuge mittlerweile zu sehr gefährdet.
  • Wann finden Sie Ihren Job klasse? Welche Momente sorgen für Begeisterung?
    Mein Job ist extrem vielfältig und macht deswegen fast immer Spaß. Besonders klasse finde ich ihn, wenn Menschen unmittelbar davon profitieren, zum Beispiel bei einer Vorlesung oder nach einem gelungenen Vortrag, oder wenn meine Ideen von Mitarbeitenden aufgenommen werden und tatsächlich zu einem kleinen Erfolg beitragen können. Begeisterung kommt aus kleinen Glücksmomenten: Zum Beispiel ein unerwartetes und vielversprechendes Forschungsergebnis, eine gerade angenommene Publikation in einer hoch angesehenen Fachzeitschrift. Sehr besonders sind immer die Abschlüsse der Studierenden oder der Mitarbeitenden, also die Kolloquien zu den Bachelor- und Masterarbeiten sowie die Promotionsverteidigungen. Da empfinde ich meine Aufgabe als Betreuer als vollbracht und das Glücksgefühl ist groß.
  • Stellen Sie sich vor, Sie hätten auf dem Freimarkt einen Stand und müssten nun den Besuchern erklären, an was Sie gerade arbeiten – wie sähe Ihr Stand aus?
    Mein Stand würde aus einer riesengroßen Lupe hinter einer Kinokamera mit Zeitlupe bestehen. Damit könnten die Besucher sich die Welt ganz nah anschauen. Das Wirrwarr aus Atomen und Molekülen, aus denen alles, was wir kennen, besteht, würde sich langsam vor ihren Augen entfalten. Denn so versuchen wir die atomare Welt durch unsere Computersimulationen sichtbar zu machen und uns mit unseren Experimenten, an diese fremde, körnige Realität heran zu tasten.
  • Welche gesellschaftliche Bedeutung hat Ihre Arbeit und worin besteht der Nutzen?
    Als Hochschullehrer bilde ich zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen die Personen aus, die für den technologischen Fortschritt unserer Gesellschaft und die Gesundheit unseres Planeten verantwortlich sein werden. Als Forscher generiere ich zusammen mit meinem Team immer wieder neue Erkenntnisse über die physikalischen und chemischen Zusammenhänge, die unsere materielle Welt regeln – das hat nur einen "Nutzen", wenn man der Materialität des Universums einen hohen Stellenwert zuweist und positivistisch denkt. Beides tue ich gerne.
  • Wann sprechen Sie bei Ihrer Arbeit von Fortschritt? Oder anders gefragt: Womit retten Sie die Welt?
    Ich sehe mich nicht als Retter, eher als Rätsellöser. Es ist erstaunlich, wie viel wir noch nicht kennen, und welches Potential für eben einen "Fortschritt" in der Welt der Werkstoffe steckt. Die Materie verstehen, um zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen neue Werkstoffe zu entwickeln, das ist grob gesagt meine Aufgabe als Wissenschaftler.
  • Verraten sie uns Ihr liebstes Arbeitsinstrument oder Ihre wichtigste Forschungsmethode?
    Mein Lieblingsarbeitsinstrument heißt Atomkraftmikroskop. Man kann es sich als eine winzige Abspielnadel vorstellen, die eine Oberfläche abtastet und somit die kleinste Rauheit ermittelt, eben bis zur atomaren Skala. Die Spitze der Nadel ist nur zehn Nanometer groß, also ziemlich genau Tausend Mal kleiner als die Nadel eines herkömmlichen Plattenspielers. Wenn man bedenkt, welche Musiknuancen Schallplattenspieler wiedergeben, kann man sich vielleicht vorstellen, welche hervorragende Informationsqualität das Atomkraftmikroskop mit relativ einfachen Mitteln liefert. Fantastisch. Meine Lieblingsforschungsmethode bleibt allerdings die Molekulardynamik-Simulation am Großrechner. Hier tanzen die Atome und wir beobachten das Geschehen.
  • Wann und warum führte Sie Ihr Weg nach Bremen? Und woher kamen Sie?
    Im Oktober 2008, als ich Nachwuchsgruppenleiter am Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik in Freiburg im Breisgau war, wurde ich auf meine Professur "Grenzflächen in der Bio-Nanowerkstofftechnik" berufen. Die Universität Bremen, zusammen mit der Conrad-Naber-Stiftung, machte mir ein Angebot, das ich einfach nicht ablehnen konnte. Wie man sieht, bin ich immer noch glücklich hier.
  • Was schätzen Sie am Land Bremen als Wissenschaftsstandort? Was hält Sie hier?
    Was Bremen prägt, ist die sehr enge Zusammenarbeit der verschiedenen universitären sowie außeruniversitären Instituten und Bereichen. Der Uni-Campus als zusammenhängende Einheit ist extrem wertvoll. Auch schätze ich sehr den gegenseitigen Respekt unter Kolleginnen und Kollegen, der den berühmten "Bremer Spirit" ausmacht. Es gefällt mir auch, dass die Universität sich eine gewisse Profilschärfe gegeben hat – das müssten wir vielleicht noch konsequenter betreiben. Außerhalb der Arbeit halten mich die Nähe zur Nord- und Ostsee, das nordische Flachland mit seiner Wattenmeer- und Insellandschaft und das Grüne der Stadt mit ihrem Zauber hier.
  • Fehlt Ihnen etwas?
    Danke für die Fangfrage – grundsätzlich nicht. Dennoch spürt man in gewissen Situationen im kleinen Stadtstaat den Nachteil des deutschen Föderalismus hinsichtlich der bundesweiten Ressourcenverteilung im Wissenschaftssystem, in der Hochschulbildung und noch mehr in der Schulbildung. Echte Chancengleichheit für unseren Nachwuchs ist nur bedingt möglich. Die partielle Aufhebung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

    [Anm. d. Red.: War nicht als Fangfrage gemeint ;-) Eine ehrliche Antwort ist immer Gold wert...]
  • Die Wege in Bremen und Bremerhaven sind bekanntlich kurz. Wie bewegen Sie sich durch die Stadt?
    Mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit der Straßenbahn, in dieser Reihenfolge. Aber um das Bremer "Umzu" sowie die benachbarte Region zu entdecken und erleben, bin ich über mein Auto (bald ein Elektroauto!) auch sehr glücklich.
  • Wenn Sie die Wissenschaftsszene im Land Bremen mit einem Tier vergleichen sollten, welches würden Sie wählen und warum?
    Mit den Bienen. Die Individuen haben vielfältige Aufgaben und sind damit gut beschäftigt, die Kolonie hat ihre eigene kollektive Intelligenz. Was sie produzieren ist gut und gesund für die Menschen. Und sie gedeihen, wenn das Umfeld blüht – nachhaltig und umweltschonend zu düngen ist ziemlich wichtig.
  • Was war die größte Herausforderung Ihrer wissenschaftlichen/beruflichen Laufbahn, die Sie zu meistern hatten?
    Aus einem nur auf Papier existierenden "Wissenschaftsschwerpunkt" der Universität ein lebensgefülltes, sichtbares und aktives Konsortium (das MAPEX Center for Materials and Processes) zu gestalten, das sich sogar resilient gegen die Wellen der Exzellenzinitiative mit ihren riesigen Höhen und Tiefen erwiesen hat, war ganz sicher meine größte Herausforderung. Das war allerdings nicht nur ein Verdienst meiner eigenen Arbeit, sondern das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung und einer ausgeprägten Bienenschwarmintelligenz.
  • Welche stehen Ihnen noch bevor?
    In den zweiundzwanzig Jahren bis zu meiner Pensionierung hoffe ich auf sehr viele neue Herausforderungen! Eine größere Herausforderung alle drei bis fünf Jahre halte ich für ein gesundes Maß. Wenn man allein an MAPEX denkt, haben wir zum Beispiel demnächst ein Gerätezentrum für die Materialanalytik, das im Detail geplant, gebaut, ausgestattet und organisiert werden soll. Und was die Lehre angeht, werden wir sehr bald Studierende einer Generation haben, die im Zeitalter der vollständigen digitalen Vernetzung aufgewachsen ist. Passende Studienangebote und Lehrtechniken hierfür zu entwickeln und anzuwenden wird uns alle sehr intensiv beschäftigen.
  • Haben Sie eine persönliche Erfolgsformel?
    Lass dich immer wieder regelrecht begeistern; verliere nicht die kindliche Neugierde; glaube an das Gute in den Menschen; gehe Schwierigkeiten nicht aus dem Weg, sondern versuche sie Schritt für Schritt zu lösen; höre zu; spiele mit.
  • Aus welchem Scheitern haben Sie am meisten gelernt?
    Einmal bin ich ganz knapp an einem Grant des European Research Council in der Endrunde gescheitert. Da habe ich gelernt, dass zwischen "im Ganzen ausgezeichnet" und "in allen denkbaren Kleinigkeiten ausgezeichnet" eine sehr große Kluft liegt, die in kritischen Situationen den echten Unterschied macht. Erfolg ist die Kunst der Detailausgestaltung, an dieser Stelle muss ich noch einiges an mir arbeiten.
  • Wobei oder wodurch wird Ihr Kopf wieder frei?
    "Frei" interpretiere ich jetzt als "in Ordnung gebracht", denn komplett frei wäre schade um die noch aktiven Neuronen. Ich bringe meinen Kopf "in Ordnung" immer bei intensiver Sportaktivität, oder draußen in der Natur, insbesondere am Meer, im Wald, in den Bergen. Und spontane Entspannung kann ich besonders bei einem herzlichen Lachen mit Freunden und Familie finden.
  • Der/Die nächste Nachwuchswissenschaftler/in zieht nach Bremen. Was würden Sie ihm/ihr raten, wo er/sie wohnen und abends weggehen soll?
    Wohnen: In Finndorf, es liegt nah am Stadtkern und ist durch den Bürgerpark von der Uni getrennt, was einen schönen Arbeitsweg mit dem Rad verspricht.

    Ausgehen: Ich finde, in der Neustadt hat sich eine nette und wachsende Kneipenszene entwickelt, mit Besitzern, die sich echt viel Mühe geben, ein gutes Livemusik-Angebot zu bieten. Auch die dortigen kleineren Bühnen wie das Theater am Leibnizplatz oder die Schwankhalle sind mir sehr sympathisch.
  • Mit wem würden Sie ihn/sie hier in Bremen oder Bremerhaven bekannt machen wollen?
    Ich beziehe mich jetzt auf meine Arbeitstätigkeit und betrachte die Uni als Kollektiv: Ich würde sie/ihn zum Sommerfest der Uni mitnehmen – da gibt es so viele interessante Menschen zu treffen, von erfahrenen Persönlichkeiten bis zu den neu dazugekommenen, da kann man auf Erfahrungsschatzsuche gehen, neue Motivation schöpfen, über den eigenen Werdegang berichten und nachdenken...
  • Wenn Sie einen Tag lang Ihr Leben mit einer/m Bremer/in oder Bremerhavener/in tauschen könnten, wessen Leben würden Sie wählen?
    Ist Claudio Pizarro mittlerweile ein Bremer ex honorem? Wenn ja, mit ihm! Fit wie ein Turnschuh, ein tolles Beispiel, eine Referenzperson für den Nachwuchs und immer an der frischen Luft. Herrlich.
Mann im Anzug schaut in die Kamera

© WFB/Jonas Ginter

Steckbrief: Prof. Dr.-Ing. Lucio Colombi Ciacchi

Geburtsjahr
1973

Familienstand
nicht verheiratet

Fachbereich
Produktionstechnik

Forschungsfeld
Materialwissenschaft, heterogene Materialgrenzflächen

Aktuelle Position
Professor, Inhaber der Conrad-Naber-Stiftungsprofessur "Grenzflächen in der Bio-Nano-Werkstofftechnik"

Funktion
Sprecher des MAPEX Center for Materials and Processes der Universität Bremen

Aktuelle Tätigkeit
Lehre, Forschung, akademische Selbstverwaltung.
Aktuelles Forschungsprojekt: Atomare Untersuchung von biologisch/anorganischen Hybridsystemen

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